Erfahrungsbericht von Marie aus der L‘ Arche Antigonish, Kanada

Der Abreisetag war da und meine Nervosität war auf dem Maximum. Der Abschied von meiner Familie und meinen Freunden war nicht sehr einfach für mich, aber meine Freude auf das nächste Kapitel war mein Antrieb. Der Flug und die Umstiege verliefen problemlos und um 02:00 Uhr nachts bin ich in Halifax angekommen, wo ich abgeholt wurde. Beim Zwischenstopp in Toronto habe ich Yannik kennengelernt, der mit mir zusammen nach Halifax fliegen und auch in der Arche arbeiten sollte. Wir verstanden uns direkt sehr gut, was mir Sicherheit gab, da ich jetzt einen ersten Freund gefunden hatte und ich mich nicht mehr so alleine fühlte.

In Antigonish hat die Arche fünf Häuser, die über die Stadt verteilt sind. Dort leben Gemeinschaften zusammen, die meistens aus 3-4 Live- in Assistants und 4-5 Core Member bestehen. Die Häuser haben verschiedene Namen: Es gibt Dixie-, Hope-, Emmaus-, Jubiliee-, und Covenant- House. Ich bin bei meiner Ankunft ins Covenant- House gekommen, was ich während meines Aufenthaltes mein Zuhause nennen darf.

In den Häusern gibt es folgenden Aufbau: Die Assistants sind die Menschen, die im Haus arbeiten und die Core Member im Alltag unterstützen. Ich bin eine der vier Assistants, die im Covenant- House leben. Bei meiner Ankunft wurde ich von allen super lieb empfangen und ich hatte Zeit, um mich einzuleben. In der ersten Zeit habe ich gemerkt, wie viel Verständnis die anderen für mich und meine Fragen hatten. Ich musste die Routinen und alle Menschen im Haus kennenlernen, was ja alle vor mir auch schon machen mussten.

Die Core Member sind die Menschen in der Gemeinschaft, die eine Behinderung haben und das Herz der Arche darstellen. Mit den vier Core Member im Covenant- House komme ich super zurecht. Ich wurde herzlich aufgenommen und vorallem E. (Abkürzung für den Namen) mochte mich von Anfang an, da ich aus Deutschland kam. Den genauen Grund weiß ich nicht, warum sie Menschen aus Deutschland mag, aber ich war ihr dadurch sehr sympathisch :) E. ist ein sehr positiver Mensch, der einem mit seiner guten Laune immer ansteckt. Sie begrüßt mich am Morgen mit einem Lächeln im Gesicht und wünscht mir am Abend eine gute Nacht mit guter Laune. Das war ein Grund, warum ich E. sehr schnell in mein Herz schließen konnte. M. konnte ich vor allem in den ersten Tagen am besten kennenlernen, da alle anderen Core Member in Isolation waren (Kontaktpersonen zu einem Covid-Fall). M. ist taub- stumm und es war bzw. ist recht schwer sich mit ihm zu unterhalten. Mittlerweile kenne ich einige Zeichen in Gebärdensprache, aber flüssig sprechen ist oftmals schwierig. Das war für mich die Motivation, um das Alphabet in Gebärdensprache zu lernen, damit ich wenigstens eine Möglichkeit habe, um mit ihm zu sprechen. M. ist ein sehr kontaktfreudiger und gesprächiger Mensch, der mir gerne und immer alles erklären will. Man kann sich also quasi immer mit ihm unterhalten. H. ist eine Frau, die eine harte Schale und einen weichen Kern hat. Wir hatten unsere Anfangsschwierigkeiten, was mit der Zeit besser geworden ist. Sie braucht am Anfang ihre Zeit, um sich auf neue Leute im Haus einzulassen und ihnen zu vertrauen, was ich ja auch selbst von mir manchmal kenne. Wenn man sie besser kennt und sie sich mehr öffnen kann, lernt man sie als eine humorvolle und lebendige Frau kennen. A. ist eine sehr gesprächige Frau, die sich um das Wohlergehen der anderen sorgt. Sie erkundigt sich oft danach, wie es mir geht und was meine Pläne für den Tag sind. In manchen Situationen erkenne ich mich in ihr und ihren Handlungen wieder, weshalb ich mich gut in sie hineinversetzen kann

Der Wochenplan wird am Montag besprochen. Montags ist es relativ stressiger Tag, da dort ein paar Meetings anstehen. Um 10 Uhr ist das Assistant- Meeting, wo alle Assistants von allen fünf Häusern zusammenkommen und über verschiedene Dinge sprechen. Meistens besprechen wir, wie es uns geht und auch über tiefgründige Themen. Um 11 Uhr ist das Team- Meeting, wo sich die Assistants aus dem jeweiligen Haus treffen und über jeden einzelnen Core Member sprechen. Beispielsweise, ob irgendetwas auffälliges passiert ist oder beobachtet wurde, wie es dem Core Member geht etc. Dabei werden auch anstehende Termine in der Woche besprochen und alles, was gesprächsbedarf hat. An diesem Tag, meistens nachmittags, ist noch das House-Meeting, was mit allen Mitgliedern des Hauses geführt wird. Es wird darüber geredet, was jeder in der Woche gemacht hat bzw. was die Highlights waren. Außerdem werden Essensvorschläge gesammelt, was gekocht werden könnte. Dabei kann jeder seinen Wunsch äußern und jeder kommt zu Wort.

Um meine Arbeit am besten zu beschreiben, kann ich einen beispielhaften Tag beleuchten. Mein Tag beginnt meistens zwischen 7-7:30 Uhr. Die ersten Tätigkeiten, die man macht, wenn man die Morgenschicht beginnt, sind: Sicherheitssystem ausschalten, Kaffee kochen, Teewasser aufsetzen, die Spülmaschine ausräumen und die wichtigsten Berührungspunkte desinfizieren. Meistens ist ein zweiter Assistent noch mit dabei, der die Core Member aufweckt. Anschließend wird das Frühstück vorbereitet, was auch im Essensplan festgelegt ist. Bevor gefrühstückt wird, werden die Medikamente an die Core Member gegeben, die Temperatur gemessen, Kaffee/Tee ausgeschenkt und dann kann gestartet werden. Die Assistants räumen meistens zu der Zeit auf, fangen an den Haushalt zu erledigen oder haben Zeit sich selbst Frühstück zu machen. Ab 9 Uhr gehen die ersten Core Member los zur Arbeit oder zum Day- Programm, in dem sie bei gutem Wetter laufen oder bei schlechtem Wetter gefahren werden. Seitdem ich endlich den kanadischen Führerschein habe, mein deutscher Führerschein musste erst in einen kanadischen getauscht werden, darf ich diese Arbeit auch übernehmen. Das einzige Programm, was erst um 12.30 Uhr anfängt, ist CACL (Canadian Assosiation for Community Living), ansonsten ist meistens ab 10 Uhr niemand mehr im Haus und man hat selbst Pause. Oft ist das die Zeit, in der ich selbst frühstücke. Das Geld für Essen wird von der Arche gestellt, wovon dann Lebensmittel für das ganze Haus eingekauft werden.

In der Regel habe ich zwischen 10/12- 15/17 Uhr Pause, die ich mit verschiedenen Aktivitäten nutze. Ich erkunde sehr gerne die Umgebung, am Anfang zu Fuß und nur in Antigonish und mittlerweile entdecke ich auch mit dem Auto die Gegend um Antigonish. Ich telefoniere in der Zeit gerne nach Hause, da das die einzige Zeit am Tag ist, wo das von der Zeitverschiebung her klappt. Nach Deutschland sind es fünf Stunden Zeitverschiebung, weshalb es nicht mehr geht, wenn ich abends Feierabend habe. Außerdem gehe ich gerne in meiner freien Zeit ein paar Sachen für mich selbst einkaufen, die ich gerne haben möchte und nicht teilen will :) beispielsweise Snacks für mein Zimmer oder Joghurt, was hier immer sehr schnell leer geht, wenn es für das ganze Haus gekauft wird. Daher habe ich gerne etwas für mich da. Wenn es mit den Pausenzeiten von anderen Assistants passt, dann verbringe ich auch gerne meine Pause mit anderen Menschen und man geht etwas essen oder fährt irgendwo hin. Die Aktivität hängt auch immer davon ab, wie lange ich Pause habe. Manchmal sitze ich auch einfach nur in meinem Zimmer und schaue meine Serie, da ich ein bisschen Entspannung brauche.

Um 15 Uhr kommen Alle von der Arbeit zurück und jeder nutzt die Zeit, wie es ihm gerade gefällt. Es wird Fernsehen geschaut, gepuzzelt oder Zeit auf seinem Zimmer verbracht. Wenn das Wetter gut ist, gehen wir auch raus spazieren oder auf einen Drive mit dem Auto zu einem schönen Ort. Außerdem schaue ich, was im Haushalt getan werden muss. Beispielsweise muss gefegt und gewischt werden? Sind die Badezimmer schon geputzt worden? Ist der Müll schon rausgebracht worden? Wurden die Progress Notes schon geschrieben? Die Progress Notes sind Notizen zu dem Alltag der Core Member, der in kurzen Sätzen festgehalten wird. Und eine Checkliste zu der Routine muss abgehakt werden und am Abend vollständig sein. Das dient zur Feststellung von Veränderung im Verhalten oder einfach um Entwicklung zu sehen und nachsehen zu können.

Jeder Tag ist für einen Core Member der „Laundryday“, wo die Wäsche gemacht wird. Dabei helfen die Assistants oder haben ein Auge darauf. Im Laufe der Zeit, die ich bisher hier war, habe ich festgestellt, dass die meisten Core Member im Covenant- House sehr selbstständig sind, im Gegensatz zu vielen Core Member von anderen Häusern. Sie sind körperlich nicht eingeschränkt, sodass man sie fast ausschließlich beim Waschen am Abend unterstützen kann. Auch nur bei zwei von Ihnen, die anderen erinnert man daran oder achtet darauf, dass sie es regelmäßig machen.

Mittlerweile ist es 16 Uhr und es wird meistens angefangen das Abendessen vorzubereiten. Auf dem Wochenplan ist auch festgehalten, wer an welchem Tag mit dem Kochen dran ist. Jeder Assistant ist ein bis zweimal in der Woche an der Reihe mit Kochen. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die Mahlzeit Gemüse und auch sonst viele Nährstoffe enthält. Ich musste mich am Anfang daran gewöhnen, dass es sehr früh Abendessen gibt. Das Essen ist meistens gegen 17- 17:30 Uhr fertig und dann werden erstmal die Medikamente ausgegeben. Das Essen wird danach verteilt, was durch die Assistants geschieht. Am Anfang war es so, dass wir getrennt von den Core Member essen mussten, da es wegen der Corona- Pandemie so geregelt wurde. Mittlerweile ist es uns wieder erlaubt in einem Raum mit den Core Member zu essen. Die Mahlzeiten sind eine der wenigen Momente, in denen das ganze Haus zusammensitzt. Man spricht über seinen Tag, über andere Dinge oder genießt einfach sein Essen. Gekocht wird hier sehr international, da wir Assistants aus verschiedenen Teilen der Welt kommen. Ich muss zugeben, dass die Assistants in meinem Haus sehr gut kochen können und das Essen immer schmeckt. Nach dem Essen beginnt die Nachtroutine, wo beim Duschen geholfen wird. Es werden die Progressnotes für den Tag fertig geschrieben, da die Routinen für den Tag erledigt wurden. Um 20 Uhr ist dann noch einmal Medikation für diejenigen, die abends Medikamente bekommen. Es wird die Temperatur gemessen und jeder bekommt einen Abendsnack. Der Abend wird dann meistens im Wohnzimmer verbracht, wo der Fernseher läuft oder man nette Gespräche führt. Um 21 Uhr habe ich dann Feierabend und ich kann den Rest des Abends selbst gestalten. Im Winter ist es meistens draußen so kalt, dass ich eher einen Filme- Abend mit anderen Assistants organisiere oder in meinem Zimmer entspanne. Ich kann mir vorstellen, dass es im Sommer etwas aktiver wird. Insgesamt arbeite ich in der Woche 48 Stunden, was mir abends oft die Kraft raubt, noch sehr aktiv zu sein :)

In den Sommermonaten haben sich die meisten Assistants Urlaub genommen, weshalb jedes Haus für den Sommer einen „Summerstudent“ hat, welcher öfter im Haus ist und mithilft (40 Stunden die Woche). Es gibt aber auch ein paar Veränderungen, wie beispielsweise die Menge der Arbeit. Ich habe das Gefühl es ist so viel mehr zu tun als noch vor ein paar Monaten. Am Anfang meiner Zeit hier konnte ich in meiner Arbeitszeit so viel lesen oder Tagebuch schreiben, aber jetzt bin ich eigentlich dauerhaft auf den Beinen und erledige irgendwas. Es könnte daran liegen, dass ich mittlerweile erfahrener bin und mehr Verantwortung übernehme. Ich finde eigentlich immer irgendwas, was getan werden muss. Außerdem wissen die „Casuals“ (die Menschen, die nur ab und zu eine Schicht im Haus übernehmen) oft nicht, wie man gewisse Dinge macht und dann muss ich Ihnen das erstmal erklären. Ein bisschen stolz macht mich das ja schon, dass ich jetzt diejenige bin, die Dinge erklären kann :). Ich bin nun auch die Beauftragte für den wöchentlichen Einkauf, was eine ganz neue Erfahrung war/ist. Das Kochen war ja schon eine Umstellung, da man auf einmal für eine „Großfamilie“ kocht, aber für eine Großfamilie einkaufen zu gehen, was auch noch für eine ganze Woche reichen soll, ist nochmal eine andere Hausnummer.

Eine weitere Veränderung ist die aktuelle Stimmung im Haus im Vergleich zu der Stimmung im Winter. Alle sind so viel aktiver, positiver und gesprächiger, was den Alltag um Einiges angenehmer macht. Im Winter ist mir das gar nicht so stark aufgefallen, da ich es ja nicht anders kannte, aber die Stimmung hat sich schon verändert. Wir sitzen ganz oft auf der Veranda vor dem Haus, die ja in Amerika und Kanada ganz typisch ist, die ich aber in Deutschland eigentlich noch nie gesehen hatte. Ich denke, dass das so ein Ding in Kanada/Amerika ist und viele Deutsche mehr Privatsphäre haben möchten und nicht vor ihrem Haus sitzen möchten, wo jeder sie sehen kann. Wir genießen es hier vor dem Haus zu sitzen und die fahrenden Autos zu beobachten oder den vorbeigehenden Menschen „Hallo“ zu sagen. Jetzt im Sommer unternehmen wir auch einige Dinge. Beispielsweise gehen wir mit zwei Core Member ab und zu zum „Horseback- riding“, was sehr therapierend wirkt. Auf sie und auf uns auch :)) Wir machen Spaziergänge durch Antigonish, wir mähen unseren Rasen im Garten, was sehr viel Arbeit macht, da unser Garten relativ groß ist :), wir gehen zum Strand und laufen dort etwas herum, samstags gehen wir zum Markt hier in Antigonish oder laufen zu „Tim Hortons“ und essen Mittag. Also wir sind einfach mehr unterwegs, als noch im Winter :)

Das Wetter wurde ab Ende Mai, Anfang Juni besser und wir bekamen wärmere Temperaturen. Dadurch konnten wir auch mehr mit den Core Member unternehmen, wie ich ja schon beschrieben habe. Ich habe mir natürlich wieder einige Sonnenuntergänge angeschaut, da sie hier einfach am schönsten sind. Bei dem schönen Wetter haben wir Assistants auch manchmal unsere Pausen genutzt und sind an einen schönen Ort gefahren und haben gepicknickt. Am 29. Juni war ein ganz großes Picknick, wo sich die verschiedenen Communities aus Nova Scotia in Truro getroffen, zusammengesessen und Zeit miteinander verbracht haben. Es war auch mal schön Menschen aus anderen Communities zu sehen, obwohl das Zusammensitzen separierter war und jede Community eher für sich saß. Ich habe auch wieder die warmen Temperaturen jetzt Ende Juni genutzt und bin ins Meer gegangen. Die Abende können wir jetzt auch meistens draußen verbringen und eine meiner liebsten Aktivitäten ist es, nach dem Feierabend auf unserer Veranda zu sitzen und mit anderen Assistants zu quatschen. Letztens hat es auch einmal geregnet, aber da die Veranda überdacht ist wurden wir nicht nass. Es war so schön einfach dort zu sitzen, dem Regen zuzuhören und zu quatschen! Die Wärme bringt aber nicht nur positive Dinge, sondern auch Mücken. GANZ VIELE MÜCKEN. Das ist hier wirklich eine Plage, da man das Gefühl hat, dass man zu jeder Tageszeit Mückenspray dabeihaben muss, um ansatzweise eine Chance gegen sie zu haben :)

Als ich von meinem Urlaub dann wiederkam, war der Juni auch quasi vorbei und am ersten Juli war der „Canada Day“. Dort wurde die Unabhängigkeit vom 1. Juli 1867 gefeiert, wo sich der Kanadische Bund („Canadian Confideration“) zusammengeschlossen hat. Dieser bestand aus den Provinzen Nova Scotia, New Brunswick, Ontario und Quebec was zur Gründung eines unabhängigen Kanadas führte. An diesem Tag gab es viele verschiedene Veranstaltungen in Antigonish. Wir sind dann am Abend mit den Core Member zum Columbus Field gefahren und haben uns etwas Live- Musik angehört, wo dann auch die kanadische Nationalhymne gespielt wurde und alle mitgesungen haben. Nachdem ich Feierabend hatte, bin ich dann nochmal mit einer Freundin hingegangen, damit wir uns das Feuerwerk anschauen konnten. Die Core Member aus meinem Haus haben sich die Möglichkeit nicht nehmen lassen und auf unserer Veranda Kanada- Flaggen aufgehangen, um ihren Nationalstolz auszudrücken!

Wenn ich meine bisherige Zeit in Kanada etwas Revue passieren lasse, dann kann ich einen ganz deutlichen Unterschied zu Deutschland feststellen. Der Umgang miteinander. Wir leben zu acht in einem Haus zusammen und alles Menschen unterschiedlichen Alters und jeder wird respektiert und wertschätzend behandelt. Ich möchte damit nicht implizieren, dass in Deutschland jeder respektlos behandelt wird, da das nicht der Wahrheit entspricht. Hier in Kanada sticht einfach dieser wertschätzende Umgang miteinander sehr heraus. Es werden Gefallen füreinander getan und man versucht einander bestmöglich zu unterstützen. Ich hatte in Deutschland oft das Gefühl, dass ich irgendwie in der Schuld des Anderen stehe, wenn mir ein Gefallen getan wurde. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen sehr auf sich selbst konzentriert sind und für sich selbst kämpfen. Mir ist hier aufgefallen, dass man genauso schnell oder sogar schneller an seine Ziele kommt, wenn man gemeinsam arbeitet und die Augen auch auf sein Umfeld legt. Ich hatte im ersten Bericht schonmal von den Meetings erzählt, die jeden Montag stattfinden. Darunter ist auch ein Teammeeting, welches mit den Teammitgliedern des Hauses geführt wird. Dabei versuchen wir alle so ehrlich wie möglich zu sein und Probleme anzusprechen, da wir sonst nicht gut zusammenarbeiten können. Der ausschlaggebende Punkt ist, dass wir einen Raum haben, um ehrlich miteinander sprechen zu können. Das finde ich super, da einfach sonst viele Probleme nicht ausgesprochen werden, was das Arbeitsverhältnis enorm beeinflusst. Eine andere „Tradition“, die ich hier sehr schätze, ist die Begrüßung unter Kanadiern. Ich weiß noch, dass ich am Anfang super verwirrt war, da ich das so gar nicht aus Deutschland kannte. In Kanada begrüßen sich wirklich ALLE Menschen mit der Frage: „Hi, how are you?“ (Hallo, wie geht es dir?). Ich will nicht naiv sein und vielleicht ist es manchmal nur so dahingesagt, aber ich bin davon überzeugt, dass es die meisten Menschen ernst meinen und ich fühle mich direkt von Anfang an wohl und willkommen in einem Gespräch. Ich finde das demonstriert auch nochmal den wertschätzenden Umgang miteinander.

Was ich hier bei meiner Arbeit mit behinderten Menschen nochmal ganz verstärkt gemerkt habe, ist, wie unterschiedlich Menschen und ihre Bedürfnisse sein können. Ich musste zu jedem Core Member erstmal in irgendeiner Weise eine Beziehung aufbauen, um diesen Menschen kennenzulernen und die Gedanken und Taten besser verstehen zu können, damit ich sie im Alltag bestmöglich unterstützen kann. Ich konnte meine Menschenkenntnis um so viele Erfahrungen erweitern, was mich in allen Hinsichten bereichert hat. Die Core Member in meinem Haus kenne ich mittlerweile und habe auch ihr Vertrauen und dieses zu erarbeiten war monatelange Arbeit. Bei manchen ging es schneller, bei Anderen hat es etwas länger gedauert, was ja ganz normal ist und immer auf die Person und ihre bisherigen Erfahrungen ankommt. Das habe ich hier bei der Arbeit auch schnell festgestellt, dass manche Core Member Schwierigkeiten haben sich an neue Assistants zu gewöhnen. Es gehört hier zur Normalität, dass Assistants kommen und gehen, da viele nur für eine gewisse Zeit bleiben, was ich mir aber sehr schwer für gewisse Core Member vorstelle. Sie bauen gerade das Vertrauen zu seiner Person auf und können sich öffnen, da geht der/die Assistant schon wieder und jemand neues kommt, der/die alle Routinen erst lernen muss. Daher ich kann verstehen, weshalb einige Menschen länger brauchen, um Vertrauen aufzubauen. Ich finde es auch ganz spannend darüber nachzudenken, bei wem ich welche Knöpfe drücken kann, um etwas zu erreichen. Aber auch, wo die reizbaren Punkte sind, die man eher vermeiden sollte anzusprechen.

In meiner restlichen Zeit hier in Kanada ist auch noch einiges geplant. Am 25. Juli fahren wir für zwei Wochen auf Community Vacation, wovon wir eine Woche auf Prince Edward Island (PEI) verbringen und die andere Woche in Antigonish sein werden. Die Gruppen wurden so erstellt, dass Bewohner aus mehreren Häusern dabei sind, wodurch man nochmal besser andere Assistants und Core Member kennenlernt. Wenn wir wiederkommen, ist es nicht mehr lange und ich habe meinen letzten Arbeitstag. Ein paar Tage später kommt meine Mama nach Kanada geflogen und wir verbringen hier circa 10 Tage zusammen, bevor wir gemeinsam nach Deutschland zurückfliegen.

 

Für die verbleibende Zeit in Kanada nehme ich mir fest vor alles zu genießen und alles mitzunehmen, was geht. Ich möchte nicht zu oft darüber nachdenken, dass es bald schon wieder nach Hause geht..